Vorlesen ist mehr als Lesen.
Es ist Nähe, Wärme und dieses kleine gemeinsame Atmen zwischen zwei Welten.
Zwei Kinder, zwei Lieblingsbücher – und Erinnerungen, die bis heute leuchten.
Es gibt Bücher, die bleiben nicht nur im Regal, sondern im Herzen.
Bei uns waren es zwei: „Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?“ und „Tomte Tummetott“.
Mein Sohn hat das erste so oft gehört, dass ich Passagen im Schlaf aufsagen konnte.
Dieses kleine Kaninchen, das immer noch ein Stück weiter zeigen wollte, wie groß Liebe eigentlich ist – es war unser Gute-Nacht-Gespräch, unser Ritual, unser „Ich bin da.“
Jede Seite war ein eigener Atemzug, jede Wiederholung ein kleines Versprechen.
Meine Tochter dagegen liebte Tomte.
Den stillen, wachsamen Zwerg, der durch die Nacht schleicht, wenn alle anderen schlafen.
Wir haben Tomte nicht nur im Winter gelesen – er war zu jeder Jahreszeit willkommen.
Sie lauschte ihm wie einer echten Person, als könnte er jederzeit bei uns vorbeikommen, wenn wir nur lange genug wach blieben.
Die Bücher selbst stehen heute nicht mehr bei mir im Regal.
Tomte Tummetott ist mit meiner Tochter weitergezogen, dorthin, wo ihre eigenen Erinnerungen gewachsen sind.
Und auch das Kaninchen hat irgendwann seinen Weg weitergenommen.
Aber die Momente, die wir damit hatten, sind geblieben.
Vorlesen geschieht nicht in Papier und Druckerschwärze.
Es geschieht zwischen Menschen.
Vielleicht kommt meine Liebe zum Vorlesen auch daher, dass ich selbst damit aufgewachsen bin.
Hans Christian Andersen war schon in meiner Kindheit ein Schatz – meine Uroma hat mir seine Märchen vorgelesen.
Es waren diese stillen, goldenen Momente, in denen ihre Stimme die Welt verzaubert hat.
Und vielleicht gebe ich mit jeder Geschichte, die ich meinen Kindern vorgelesen habe, ein Stück davon weiter.
Vielleicht ist das der eigentliche Zauber des Vorlesens:
Dass Kinder die Geschichten oft schneller vergessen, als wir denken –
aber niemals das Gefühl, das sie dabei hatten.
Heute ist Vorlesetag.
Und während ich mein altes Andersen-Märchenbuch aufschlage, merke ich wieder, wie viel diese Abende mit meinen Kindern bedeutet haben.
Nicht, weil sie ruhig waren (waren sie selten).
Nicht, weil es perfekt war (war es nie).
Sondern weil wir für ein paar Seiten eine gemeinsame Welt betreten haben.
Vorlesen macht etwas mit Kindern.
Aber es macht auch etwas mit uns Erwachsenen:
Es entschleunigt, erdet und verbindet –
und lässt uns für einen Moment die Welt auf Augenhöhe sehen.
Vielleicht brauchen wir genau das heute:
Mehr Stimmen, die Geschichten teilen.
Mehr Nähe, die nicht digital ist.
Mehr Tomte in der Nacht.
Mehr Kaninchen, die sagen:
„Ich hab dich lieb. Und zwar ganz, ganz doll.“